In atemberaubender Geschwindigkeit setzt sich die Syriza-Regierung in Griechenland über das erdrutschartige “Nein”-Votum der Bevölkerung gegen den Sparkurs der EU hinweg.
Nur vier Tage nachdem griechische Arbeiter und Jugendliche dem EU-Diktat mit überwältigender Mehrheit eine Absage erteilt hatten, legte die griechische Regierung der Eurogruppe Vorschläge für Sparmaßnahmen über dreizehn Milliarden Euro vor. Sie sollen an diesem Wochenende geprüft werden. Die griechische Regierung hofft im Gegenzug ein weiteres Kreditpaket über 53 Milliarden Euro zu erhalten.
Der Vorschlag, der am Freitagmorgen vom griechischen Parlament mit großer Mehrheit angenommen wurde, ist noch brutaler als das Neun-Milliarden-Paket, das die Wähler beim Referendum abgelehnt hatten. Er umfasst unter anderem folgende Maßnahmen:
- Das Renteneintrittsalters soll bis zum Jahr 2022 schrittweise von 62 auf 67 Jahre steigen. Frühverrentung soll es nicht mehr geben.
- Der Solidarzuschlag für arme Rentner soll ein Jahr früher auslaufen als bisher geplant und die Gesundheitskosten für Rentner sollen um fünfzig Prozent steigen.
- Die unsoziale Mehrwertsteuer soll bei den meisten Waren auf 23 Prozent steigen.
- Löhne und Gehälter im öffentlichen Sektor sollen durch „Vereinheitlichung“ der Lohnstaffeln gekürzt, der Arbeitsmarkt weiter dereguliert werden.
- Sämtliche geplanten Privatisierungen, zum Beispiel bei den Regionalflughäfen und den Häfen von Piräus, Thessaloniki und Hellenikon, sollen unverzüglich durchgeführt werden.
- Treibstoffsubventionen für Bauern sollen gekürzt und Steuergesetze bei kleinen Geschäften, Grundstücksbesitzern und Selbständigen strenger angewandt werden.
In unübertrefflichem Zynismus versucht Syriza-Führer Alexis Tsipras die blanke Missachtung des Wählerwillens der griechischen Bevölkerung als Triumph der Demokratie hinzustellen. Tatsächlich bestätigt der neue Vorschlag vollkommen die Einschätzung, die die World Socialist Web Site von Anfang an vertreten hat: Die Entscheidung, das Referendum abzuhalten, war ein reaktionärer Betrug, um der Ausplünderung Griechenlands durch die Banken einen Anschein von demokratischer Legitimität zu verschaffen. Das Referendum war, „ein zynisches Manöver der Syriza-Regierung“, um „der griechischen Bevölkerung die Verantwortung für die Zustimmung zu einer neuen Runde brutaler Kürzungen unterzuschieben“.
Die schamlose Unterwerfung Syrizas unter die Forderungen der EU ist das unvermeidliche Ergebnis ihres gesamten Kurses seit der Übernahme der Regierungsverantwortung im Januar. Von Anfang an war sie nur um geringfügige Modifizierungen der EU-Politik bemüht. Sie versprach sofort, keine einseitigen Maßnahmen wie die Abschreibung der griechischen Schulden in Höhe von etwa 300 Milliarden Euro zu ergreifen oder Kapitalverkehrskontrollen zu verhängen, um die Kapitalflucht aus dem Land zu verhindern.
Zu keinem Zeitpunkt versuchte Syriza, sich auf die Massenopposition der europäischen Arbeiterklasse gegen die Rotstiftpolitik der EU zu stützen. Stattdessen tat sie alles, um sich bei den Großbanken und imperialistischen Mächten Europas und bei der Obama-Regierung einzuschmeicheln. Die europäischen Regierungen, mit Berlin an der Spitze, behandelten Tsipras mit wohlverdienter Verachtung, weil sie genau wussten, dass sie von dem Syriza-Führer nichts zu fürchten hatten.
Als die EU Griechenland die Auszahlung weiterer Kredittranchen verweigerte, begann die Regierung, die Barreserven der Kommunen, Krankenhäuser und Universitäten und die Sozialversicherungskassen um Milliardenbeträge zu plündern. Als diese Gelder erschöpft waren und die EU drohte, Griechenland die Kredite zu kappen und das Land aus der Eurozone zu werfen, setzte Tsipras das Referendum an.
Der Journalist Ambrose Evans-Pritchard schilderte im Daily Telegraphvertrauliche Gespräche im Führungszirkel Syrizas, denen zufolge Tsipras einen Sieg des „Ja“-Lagers erwartet hatte. Das hätte es ihm ermöglicht, zurückzutreten, Neuwahlen auszurufen und einer neuen Regierung die Durchsetzung der Kürzungen zu überlassen.
Das überwältigende „Nein” der griechischen Wähler schockierte Syriza. In dem Moment waren nur zwei Alternativen möglich: Entweder konnte Tsipras die Abstimmung als Ausgangspunkt für eine Massenmobilisierung gegen die Kahlschlagpolitik nutzen, oder er musste kapitulieren. Wie nicht anders zu erwarten, wählte er die Kapitulation.
Natürlich waren da die Drohungen der europäischen Banken und Regierungen, aber in erster Linie war es die Radikalisierung der griechischen Arbeiterklasse, die Syriza zu Tode erschreckte. Für Tsipras und sein Gefolge waren die Massendemonstrationen vor dem Referendum und der Erdrutschsieg des „Nein“-Lagers eine Katastrophe.
Syrizas Initiative, jetzt ein beispielloses EU-Sparpaket vorzuschlagen, ist ein herber Rückschlag für die Arbeiterklasse. Damit überlässt sie die griechischen Massen der Gnade der EU. Insoweit das feige Vorgehen Syrizas als „linke“ Politik verstanden wird, stärkt es außerdem die reaktionärsten politischen Kräfte wie die Neonazipartei Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte).
Die Ereignisse in Griechenland sind eine wichtige strategische Erfahrung der internationalen Arbeiterklasse. Sie entlarven eindeutig die Rolle Syrizas und anderer pseudolinker Parteien in aller Welt, die in den wohlhabenden Mittelschichten verankert und im Postmodernismus ausgebildet sind. Den Professoren und Parlamentariern zufolge, die diese Organisationen führen, ist die Ära des Klassenkampfs und des Marxismus vorbei.
In Wirklichkeit erhält die Arbeiterklasse gerade eine intensive Ausbildung im realen Kapitalismus, wie der Marxismus ihn versteht: die Rücksichtslosigkeit der herrschenden Klasse, die Herrschaft des Finanzkapitals, der unversöhnliche Konflikt zwischen den Interessen der Arbeiter und der Kapitalisten.
Die Arbeiterklasse erlebt auch, was eine pseudolinke Partei tut, wenn sie an die Macht kommt. Mit dem Konflikt zwischen dem Kahlschlag des europäischen Kapitals auf der einen und der sozialen Wut der Arbeiterklasse auf der anderen Seite konfrontiert, flüchtet sich Syriza in die Arme der Banken.
Der Widerstand gegen die Sparpolitik erfordert sofortiges Handeln gegen die EU und gegen die griechische Bourgeoisie: Notwendig sind die Aufkündigung des Schuldendienstes, die Verhängung von Kapitalkontrollen, die Enteignung der Banken und Großindustrie und ihre Kontrolle durch die Arbeiter sowie ein Appell zur Unterstützung und zum gemeinsamen Handeln an die Arbeiterklasse in ganz Europa und weltweit. Wegen ihres Klassencharakters und ihrer Klassenorientierung kommt für Syriza jedoch keine dieser Maßnahmen in Frage.
Die herrschende Elite Griechenlands kann sich keinen Bruch mit der EU vorstellen. Politiker wie der Syriza-Abgeordnete Dimitris Tsoukalas, der 2013 über persönliche Ersparnisse von über einer Million Euro verfügte, Finanzminister Tsakalatos, dessen Portfolio Wertpapiere in Höhe von über einer halben Million Euro aufweist, Wirtschaftsminister Giorgios Stathakis mit seinen Investitionen von 426.000 Euro bei JP Morgan, Ex-Syriza-Führer Alekos Alavanos, der ein Sparguthaben von 350.000 Euro und elf Immobilien besitzt, und Yannis Varoufakis, dessen Frau Danae Stratou Millionärin ist – sie alle würden eine Menge Geld verlieren, wenn ihre Wertpapiere auf eine stark abwertende neue nationale Währung umgestellt würden.
Niemand kann behaupten, am Ergebnis in Griechenland sei die Arbeiterklasse schuld, weil sie zu wenig kampfbereit sei: Die Arbeiter haben beim Referendum mit “Nein” gestimmt und große Teile der Jugend und der Mittelschichten auf ihre Seite gewonnen. Das zentrale Hindernis, mit dem die Arbeiterklasse in Griechenland zu kämpfen hat, ist die reaktionäre Rolle von Syriza.
Trotzki charakterisierte die Rolle der heutigen Syriza-Verteidiger sehr treffend, als er 1940 schrieb:
Diese Philosophie der Ohnmacht, die versucht, Niederlagen als notwendige Glieder in der Kette überirdischer Entwicklungen hinzunehmen, ist total unfähig, Fragen nach solch konkreten Faktoren wie Programmen, Parteien, Persönlichkeiten, die die Organisatoren der Niederlagen waren, überhaupt aufzuwerfen, und weigert sich, dies zu tun. Diese Philosophie des Fatalismus und der Schwäche ist dem Marxismus als der Theorie der revolutionären Aktion diametral entgegengesetzt. (L. Trotzki, „Klasse Partei und Führung. Warum wurde das spanische Proletariat besiegt?“)
Alle heutigen Apologeten Syrizas wie Podemos in Spanien, die Neue Antikapitalistische Partei und die Linksfront von Jean-Luc Mélenchon in Frankreich, die International Socialist Organisation in den Vereinigten Staaten und Die Linke in Deutschland würden das gleiche tun, wenn sie an die Macht kämen. Dieser ganze Sumpf von kleinbürgerlichen Gruppierungen bringt der Arbeiterklasse nichts als Elend.
Das Wichtigste ist jetzt die Klärung der politischen Perspektiven der Arbeiterklasse und der Aufbau einer neuen revolutionären Führung. Das erfordert den Aufbau des Internationalen Komitees der Vierten Internationale als Weltpartei der sozialistischen Revolution.
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