Unverhofft kommt oft: Noch vor wenigen Wochen hieß es, spätestens Ende Juni würden die ersten Röhren der neuen Turkish-Stream-Pipeline unter dem Schwarzen Meer verlegt. Als Lieferant war der italienische Saipem-Konzern vorgesehen, der gleiche wie in dem technologisch fast identischen, aus politischen Gründen aber im letzten Herbst beerdigten South-Stream-Projekt. Am Mittwoch kam nun die Information, Gazprom habe den Liefervertrag mit der Saipem gekündigt.
Der Bau der mit 63 Milliarden Kubikmetern im Jahr ausgelegten Viererröhre in die Türkei war um den Jahreswechsel 2015 beschlossen worden und dient aus russischer Sicht als Ersatz für das zuvor durch Gazprom gestoppte South-Stream-Projekt.
Turkish Stream: Rechnung ohne den Wirt
Bei beiden Röhren war und ist die russische Motivation, rechtzeitig zum Auslaufen des Transitvertrags zwischen Gazprom und der Ukraine 2019 eine Alternative für die Lieferungen nach Europa zur Hand zu haben. Bei ihrer Planung hatten die Gazprom-Manager die Rechnung jedoch ohne den Wirt gemacht. Die Türken, denen die Zeitnot der Russen nicht verborgen blieb, präsentierten hohe Rabattforderungen für die rund 16 Milliarden Kubikmeter, die das Land für den eigenen Verbrauch bei Gazprom beziehen will. Da Gazprom nicht einverstanden war, erwies sich der angepeilte Baubeginn im Juni als unrealistisch. Der Projektvertrag ist immer noch nicht unterzeichnet.
„Im Moment können wir noch nicht sagen, dass alle Gegensätze überwunden sind“, sagte der türkische Energieminister Taner Yildiz am Mittwoch in Ankara. Bei einem Treffen der Präsidenten beider Länder Mitte Juni in Baku seien noch nicht alle Probleme gelöst worden. Zuvor hatte Gazprom mitgeteilt, der Türkei einen Rabatt von 10,25 Prozent gewähren zu wollen. Die Agentur Bloomberg meldete Ende Juni, Gazprom und der türkische Versorger Botas hätten sich noch nicht auf einen Preis geeinigt.
„Russland und die Türkei haben eigene Interessen, die sie schützen wollen“, sagte Yildiz. Er rechnet mit positiven Resultaten in den nächsten Tagen.
Verdoppelung der North-Stream-Kapazität
Derweil haben – ebenfalls im Juni – die Unternehmen Gazprom, E.On, ÖMV und Shell eine Absichtserklärung zur Verdoppelung der North-Stream-Kapazität unter der Ostsee auf 110 Milliarden Kubikmeter unterzeichnet. Des weiteren hieß es bei Gazprom, ein Anschlussvertrag in Sachen Ukraine-Transit sei nun doch nicht ausgeschlossen.
Unklar ist, ob Gazprom mit der Kündigung des Röhrenvertrags und dem Investitionsstopp am „Südlichen Korridor“ sich nur eine bessere Verhandlungsposition der Türkei gegenüber schaffen will oder ernsthaft mit dem Gedanken spielt, nach South Stream auch Turkish Stream zu beerdigen.
Seit vielen Monaten schon fährt der europäische Gasmarkt Achterbahn. Der Auslöser war ursprünglich das westliche Ziel, unabhängiger von russischen Gaslieferungen zu werden. Auch Bundeskanzlerin Merkel macht sich seit gut einem Jahr dafür stark. Was war geschehen? Jahrzehntelang, selbst unter den harschen Bedingungen des Kalten Krieges, war das ganze kein Thema. Seit den ersten Verträgen in den siebziger Jahren hatten die Russen geliefert, Kubikmeter um Kubikmeter. Erst als Russland im Gefolge der orangen Revolution in der Ukraine 2004/05 den Gashahn als politische Waffe einsetzte, wachten die Europäer auf. In Brüssel und in den EU-Hauptstädten bastelt man seitdem an Alternativen.
Deutschland und Ostmitteleuropa abhängig
Viel herausgekommen ist dabei nicht. Von den 541 Milliarden Kubikmetern Gas, die 2013 in der EU verfeuert wurden, kamen immer noch 30 Prozent aus Russland. Den intensivsten Handel mit Gazprom, der russischen Erzeugergesellschaft, pflegen Deutschland und die Länder Mittelosteuropas. Der deutsche Gasverbrauch wird zu annähernd 40 Prozent durch russische Lieferungen gedeckt. Bulgarien, die Slowakei, Finnland und Polen sind zu 100 Prozent auf russisches Gas angewiesen, Ungarn zu 70 und Griechenland zu 54 Prozent. In den westlicher gelegenen EU-Ländern liefern Norwegen und die Niederlande größere Anteile.
Es mangelt nicht an Vorschlägen. So sind die Leitungssysteme unzureichend integriert – das eine Land muss seine Gaskraftwerke anwerfen, um in Spitzenzeiten Kapazität vorzuhalten, das andere wird seinen Überschuss aus Wind- oder Sonnenenergie nicht los. In Brüssel wurde eigens eine Energie-Union erdacht, die auf maximale Integration aller betroffenen Bereiche zielt.
Bald kam auch die Forderung nach einem einheitlichen Gaspreis für alle EU-Abnehmer auf, der den Russen gegenüber durchzusetzen sei. Das rief den Widerstand der Wettbewerbshüter hervor, die marktwirtschaftliche Grundprinzipien in Gefahr sahen. Wie immer in schlechten Zeiten erklang auch die Idee, dass man im Winter weniger heizen und sich wärmer anziehen könne.
Keine Alternative zu russischem Gas
Die Wahrheit ist, dass Integrieren, Optimieren und Sparen zwar etwas bewirken, jedoch nichts daran ändern, dass die über 500 Millionen EU-Einwohner von russischen Gasimporten auch künftig abhängig sind. Hinzu kommt, dass die Förderung der Reserven in Norwegen und den Niederlanden ihren physikalischen Höhepunkt überschritten hat. Der seit Jahren verfolgte Plan, transkaspisches Gas südlich des Kaukasus, also am russischen Einflussbereich vorbei, durch die Türkei nach Europa zu pumpen, hat noch keine Gestalt angenommen. Zu groß ist das politische Gewicht der Russen in Zentralasien, wo sie eineinhalb Jahrhunderte lang die Kolonialherren waren.
Um die gut 150 Milliarden Kubikmeter, die Gazprom Jahr für Jahr in den Westen pumpt, durch Flüssiggas aus den USA oder von der Arabischen Halbinsel zu ersetzen, wären Unsummen an Investitionen erforderlich; zudem wäre das Ergebnis preislich inakzeptabel. Eine langfristige Alternative ist noch der Iran. Das Land verfügt über die größten Gasreserven der Welt, ist bislang jedoch nirgends an die internationalen Netze angebunden und politisch alles andere als zuverlässig.
Mit der Ukrainekrise wurde das Tauziehen um die künftige europäische Gasversorgung jedenfalls härter. Auch aus russischer Sicht ist Vertrauen zerstört; die zuvor lange geplante Integration der Gazprom mit ihren europäischen Kunden ist dem Konflikt zum Opfer gefallen. Der erste Schritt im Herbst 2014 war die Absage an das South-Stream-Projekt. Zwei Monate später platzte die Einbindung der Gazprom als Miteigentümerin im deutschen Verteilungsmarkt. Die Gazprom-Leitung macht keinen Hehl daraus, dass die einst verfolgte Strategie, sich einen Anteil am profitablen europäischen Downstream-Geschäft zu sichern, der Vergangenheit angehört.
Politisches Ringen hinter den Kulissen
Als die Russen um den Jahreswechsel verkündeten, Turkish Stream mit den Türken bauen zu wollen und ab 2019 kein Transitgas mehr durch die Ukraine zu liefern, waren die europäischen Kunden und die EU endgültig vergrätzt. Der Bau einer Balkan-Pipeline nach Ungarn zum Anschluss an die mitteleuropäischen Netze war zwar auch im Gefolge von South Stream geplant, doch so einfach mit der Pistole auf der Brust – das nun wieder auch nicht.
Seitdem wird gerungen und politischer Druck ausgeübt – auch auf die Türkei und auch seitens der USA. Turkish Stream würde den Russen Einflussmöglichkeiten gewähren, die man auch in Washington nicht gerne sähe, zumal vor dem Hintergrund eventueller künftiger Pläne, nicht-russisches Gas durch Anatolien zu pumpen.
Vor wenigen Wochen gab Makedonien bekannt, die (aus geographischen Gründen) unabdingbare Pipelineführung durch das kleine Balkanland werde man verweigern, solange sich nicht die EU und Russland vertraglich zu dem Thema vereinbart hätten. Ein Treffer für Brüssel. Damit sind wieder die Russen am Zug. Offensichtlich hatten sie sich die Sache einfacher vorgestellt.
Alles neu macht Elmau
Seit dem G-8-Gipfel im bayerischen Elmau im Juni werden die Karten nun wieder ganz neu gemischt. Der dort gefasste Beschluss, „im Laufe des Jahrhunderts“ komplett aus fossilen Brennstoffen auszusteigen, führt in jedem Fall zu einer beschleunigten Abschaltung von Kohlekraftwerken. Gas ist zwar ebenfalls ein fossiler Energieträger, weist jedoch proportional einen deutlich geringeren CO2-Anteil auf. Noch werden die eigentlich teureren Gaskraftwerke vor allem zur Deckung der Spitzenlast eingesetzt. Angesichts der Klimaziele wird Gas jedoch einen immer größeren Teil der Grundlast übernehmen. Das aber setzt gewaltige Mengen voraus. Einen Hinweis gibt die in Petersburg unterzeichnete Absichtserklärung zur Erweiterung der North-Stream-Kapazität auf 110 Milliarden Kubikmeter – immerhin ist die bestehende Pipeline derzeit mit rund 26 Milliarden Kubikmetern gerade einmal nur zur Hälfte ausgelastet.
Angesichts der enormen Gasmengen, die Russland im Namen des Weltklimas in den kommenden Jahrzehnten an die Europäer liefern kann, ergeben sich, wie anhand der jüngsten North-Stream-Entscheidung sichtbar wird, ganz neue Möglichkeiten jenseits des Ukraine-Transits. Das Ostsee-Projekt nimmt aus Gazprom-Sicht auch den Verhandlungsdruck aus den Gesprächen mit der Türkei. Die Südschiene (Rumänien, Bulgarien, Griechenland) mit ihren knapp 20 Milliarden Kubikmetern kann auch nach 2019 durch die Ukraine bedient werden. Darüber hinausgehende Lieferungen an die Mitteleuropäer kann man via Nord Stream abwickeln; die dort dann vorhandenen 110 Kubikmeter Kapazität reichen aus.
Wenn die EU irgendwann einsieht, dass Turkish Stream – oder dann vielleicht auch wieder South Stream – auch in ihrem eigenen Interesse ist, tritt Makedonien zurück ins Glied, die Pipelines durch den Balkan und unter der Adria hindurch werden gebaut, und die Gaskrise der Zehnerjahre des Jahrhunderts gehört der Vergangenheit an. Liefert am Ende gar der Klimaschutz den Anlass, dass Russland und die EU ihre Reibereien angesichts einer derartigen Jahrhundertchance überwinden? Man darf es hoffen; schließlich reichen – ganz im Unterschied zum Öl – die russischen Gasreserven noch für viele Generationen.
(Bild: vivki watkins, CC BY 2.0 flickr.com)