Von W. Fredencia
18. Februar 1954, 7:00 UhrUntergangstheorie des Verfassungsgerichts unter Feuer
Die außerordentlich schwerwiegenden Folgen, die mit dem 131er-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 1953 verknüpft sind, zeigen sich in der jetzt beginnenden fachwissenschaftlichen Kritik deutlich. So hat vor allem im Deutschen Verwaltungsblatt (Heft 3 vom 1. Februar 1954) der Staatsrechtslehrer der Heidelberger Universität, Professor Dr. Ernst Forsthoff, das Urteil und die Begründung ausführlich erörtert. Die wissenschaftliche Autorität des Verfassers erteilt seiner Stellungnahme Bedeutung.
Forsthoff verweist auf die Eigentümlichkeit der Argumentation des Verfassungsgerichts, „die den Rechtsspruch nicht einer Norm, sondern einer Deutung der Geschichte, nämlich der Geschichte des Berufsbeamtentums im nationalsozialistischen Staat, entnimmt“. Als konsequente Schlußfolgerung aus den Erwägungen des Gerichtes erwarte man die Feststellung, daß das Reich im Mai 1945 als Staat untergegangen sei: „Man deutet wohl die in der Formulierung vorsichtig gehaltenen einschlägigen Sätze nicht falsch, wenn man sie dahin versteht, daß das Gericht in der Tat dieser Auffassung zuneigt... Welche Folgerungen sich daraus auf völkerrechtlichem und diplomatischem Felde für die deutsche Einheit, für den Saarkomplex und für die deutsche Ostgrenze ergeben, kann und soll hier nicht angedeutet werden. Aber die Frage läßt sich nicht unterdrücken, ob das Gericht genötigt war und gut daran tat, diese außerordentlich prekäre Frage überhaupt aufzugreifen und trotz merklicher Vorsicht in der Formulierung doch im Sinne des Unterganges des Reiches als Staat zu beantworten.“ (Siehe DIE ZEIT Nr. 1 vom 7. Januar 1954: „Zehn Richter korrigieren die deutsche Geschichte“.)
Professor Forsthoff stellt dann fest, daß das Gericht den durch die Nürnberger Prozesse erbrachten Beweis nicht beachtet habe, „daß weder die Richter noch die Beamten noch die in analoger Stellung befindlichen Offiziere der Wehrmacht nur Werkzeuge, Exekutivorgane des Führerwillens waren“. Sonst würde das Gericht schwerlich die gesetzlich proklamierte Einheit von Partei und Staat „ungeprüft als Faktum hingenommen haben“. Zusammenfassend sei jedenfalls festzustellen, daß das Bild des nationalsozialistischen Staates, das das Urteil entwirft und seiner Entscheidung zugrunde legt, „den Leser nicht überzeugt, der die Wirklichkeit dieses Staates, also nicht seine Schauseite, aus eigener Wahrnehmung kennt...“.
„Soziologisches“ Recht
Noch schärfer kritisiert Forsthoff das Urteil im folgenden wichtigen Passus: „Die Feststellung des Urteils, daß die Entwicklung des Beamtenrechts nach 1933 zur offenen Verwerfung auch der einfachsten rechtsstaatlichen Grundsätze (im Beschluß des Reichstags vom 26. 4. 1942) geführt habe, legt die Erwägung nahe, ob nicht, wie das auch anderwärts nach 1945 geschehen ist, solchen zerstörenden Einwirkungen auf das Beamtenrecht heute die rechtliche Anerkennung zu versagen sei. Das Urteil geht auf diese Erwägung ein, erklärt sie aber für in hohem Maße unrealistisch. Es macht geltend, eine solche Auffassung übersähe, daß es auch eine ‚soziologische‘ Geltung von Rechtsvorschriften gibt – eine Formulierung, über die ich erfolglos nachgedacht habe. Denn entweder handelte es sich um Rechtsvorschriften, dann galten sie als solche und nicht nur ‚soziologisch‘, oder es handelte sich um Vorschriften, die nicht Recht waren, dann aber konnten sie das Beamtenrecht nicht wirksam verändern. Diese Unklarheit ist bemerkenswert. Sie hängt damit zusammen, daß gerade diejenigen Maßnahmen, durch die sich der redliche Teil der Beamtenschaft vor 1945 bedrängt und bedrückt fühlte, jetzt die Argumente dafür liefern, daß auch dieser Teil der Beamtenschaft seine Rechte mit dem 8. 5. 1945 verloren haben soll.“
Professor Forsthoff ist der Meinung, daß die tragenden Feststellungen der Urteilsbegründung, „mit denen der Tenor des Urteils steht und fällt“, von jetzt an alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden binden. Somit entziehe das Urteil den des Amtes verlustig gegangenen Beamten, indem es die Beamtenverhältnisse für am 8. 5. 1945 erloschen erklärt, alle rechtsstaatlichen Sicherungen und überweise sie dem Wohlwollen des Sozialstaates.
Versorgungsbezüge gefährdet?
Dann fährt Forsthoff fort: „Ungleich einschneidender aber ist diese Feststellung für diejenigen Beamten, die über den 8. Mai 1945 hinweg im Amte blieben oder später ohne förmliche Erneuerung des Beamtenverhältnisses wieder eingestellt wurden. Sie befinden sich nicht im Beamtenverhältnis. Denn nachdem ihr Beamtenverhältnis am 8. Mai 1945 erloschen war, konnte es nur durch Neubegründung wiederhergestellt werden. Die Ernennung aber ist ein Formakt, der nur durch Aushändigung einer Urkunde mit dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestinhalt gültig vollzogen werden kann. Die Ernennung kann natürlich nachgeholt werden, aber nicht mit rückwirkender Kraft, da dem das Formal-Erfordernis der Berufung in das Beamtenverhältnis, das in diesem Falle umgangen wird, widersprechen würde. Daraus ergibt sich eine Fülle von Fragen besoldungs- und versorgungsrechtlicher Art, wie etwa die, ob die Witwe eines nach dem 8. Mai 1945 weiter amtierenden ‚Beamten‘, dessen Beamtenverhältnis am 8. Mai 1945 erlosch und nicht gehörig durch Behändigung einer Ernennungsurkunde erneuert wurde und jetzt auch nicht mehr erneuert werden kann, noch einen Anspruch auf Versorgungsbezüge hat. Auch die erst nach dem 8. Mai 1945 entlassenen Beamten, die nach der Auffassung des Gerichts nicht mehr Beamte waren, sind insofern betroffen, als sie die nach dem 8. Mai 1945 empfangenen Bezüge erstatten müßten (worauf die in Betracht kommenden Instanzen hoffentlich verzichten werden). Unter diesen Umständen dürfte eine gesetzliche Bereinigung der Rechtsverhältnisse der ohne Erneuerung des Beamtenverhältnisses tätigen ‚Beamten‘ unabweislich sein.“
Die Kritik Forsthoffs an dieser „deprimierenden“ Entscheidung geben wir so ausführlich wieder, um breiteren Kreisen, denen die juristische Fachpresse nicht zugänglich ist, ein eigenes Urteil zu ermöglichen, besonders auch über die folgende Feststellung Forsthoffs: „Das Gericht war, wenn es, wie geschehen, erkennen wollte, nicht genötigt, mit so weitgehenden Feststellungen einer Rechtsprechung entgegenzutreten (gemeint ist die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und der übrigen ordentlichen Gerichte), die im Begriff stand, behutsam und unter Bedachtnahme auf das Recht wie auf die Grenzen des Möglichen, eine besonders schwierige Materie gewiß nicht zur (nicht erreichbaren) Zufriedenheit aller, aber doch auf eine Weise zu ordnen, daß den Anforderungen des Rechtsstaates Genüge geschieht.“
Weithin kritisch ist auch eine Stellungnahme von Professor Dr. Otto Bachof (Universität Erlangen) in der Zeitschrift Die öffentliche Verwaltung(Heft 2, Januar 1954), die uns bei Redaktionsschluß zur Kenntnis kam. Auch Professor Bachof kritisiert insbesondere die Feststellungen des Gerichts zur Frage des Fortbestandes des deutschen Staates. „Vor allem verwundert es, warum diese Frage überhaupt angeschnitten ist, wenn sie schließlich doch ausdrücklich offengelassen wurde... Bei der außerordentlichen rechtlichen und politischen Tragweite dieser Frage und angesichts der durchaus herrschenden, den Fortbestand des Reiches bejahenden Gegenmeinung hätte man erwarten sollen, daß das Gericht, wenn es die Frage überhaupt anschnitt, sich auch eingehend mit ihr befaßte und sie entschied ... Es lag kein Anlaß vor, überhaupt das Gewicht der einen Meinung, aber nicht auch das der anderen zu betonen, so daß mindestens der (möglicherweise falsche) Eindruck einer Hinneigung zu der Untergangstheorie entstehen konnte...“
W. Fredericia
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