Samstag, 9. Mai 2015

Schweden: «Wir akzeptieren kein Bargeld»

Ein Beitrag von CreditSuisse Mikael Krogerus, Journalist

Schweden führte als erstes europäisches Land Banknoten ein. Nun ist es das erste Land, das sie wieder abschafft. In Skandinavien hat die Zukunft längst begonnen.





Wer nach Skandinavien reist, macht unweigerlich zwei Beobachtungen: Erstens, nicht alle Menschen sind blond (nur 25 Prozent der Erwachsenen sind naturblond). Zweitens, es gibt kein Bargeld mehr. Egal, wo man hinkommt, egal, was man kauft – überall sieht man das kleine Schild «Vi hanterar ej kontanter» («Wir akzeptieren kein Bargeld»). Ob Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt oder das Spätbier in der Kellerbar, selbst Kleinstbeträge werden digital beglichen. Sogar die Verkäufer der Obdachlosenmagazine «Faktum» und «Situation Stockholm» tragen mobile Kartenlesegeräte bei sich.

«Bezahlst du bar, stimmt etwas nicht»

1661 emittierte die Zentralbank in Schweden als erste in Europa Banknoten, und jetzt wird man sie als erste wieder abschaffen. Was für skeptische Schweizer («Die Hölle ist bargeldlos», «Weltwoche») abenteuerlich klingt, ist hier keine grosse Sache: Vier von fünf Käufen tätigt man elektronisch. Vor allem im Einzelhandel, wo 95 Prozent des Umsatzes bargeldlos abgewickelt werden, dominiert die Karte. Der letzte Moment, in dem der durchschnittliche Skandinavier noch Bargeld braucht, ist beim Kauf von illegalen Sachen wie Drogen. Genau genommen kann man sich in Skandinavien an die Faustformel halten: «Musst du bar zahlen, stimmt etwas nicht.»

Die Bürger machen mit

Es ist nicht ganz klar, wann das Bargeld seine Ausstrahlung verlor. Klar ist nur, dass die sechs großen nordischen Banken, bis auf Handelsbanken, sich seit 2010 sukzessive vom Bargeld verabschieden – und dass die Bürger mitmachen, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Allein zwischen 2010 und 2012 wurden über 500 Filialen bargeldlos. In der gleichen Zeit entfernte man 900 Bankautomaten und erreichte damit die zweitschlechteste Abdeckung Europas. Eine der letzten Möglichkeiten, an Bargeld zu kommen, ist an der Kasse des Supermarktes, wo man pro Einkauf 500 schwedische Kronen (55 Franken) beziehen kann.

Auf Bankräuber warten harten Zeiten

«2030 sind wir bargeldlos», sagt Niklas Arvidsson, Assistenzprofessor an der Königlich Technischen Hochschule und Autor der vielzitierten Studie «The Cashless Society». In seiner Arbeit skizziert er die Hauptperspektiven auf das Geldsterben: Aus Bankensicht ist die bargeldlose Gesellschaft eine Möglichkeit, sich das aufwändige Cash-Handling zu sparen und Banküberfälle, Diebstahl und Schwarzgeld langfristig zu eliminieren. Sicherheit ist das Verkaufsargument nach aussen. Intern geht es neben den Verdienstmöglichkeiten bei den Transaktionsgebühren um einen grundlegenden Strategiewechsel: Standen vor wenigen Jahren noch die institutionellen und privaten Grosskunden im Fokus, zielt man inzwischen auf den «Individualkunden». Denn ein volldigitalisierter Zahlungsverkehr versorgt die Bank mit exakten Informationen darüber, welcher Kunde wo, wie viel und wofür Geld ausgibt. Wozu genau diese Daten verwendet werden – ausser für Werbeangebote –, wird sich bald zeigen. Die Vorstellung, näher am Kunden zu sein, als er sich selbst je kommen wird, ihm Lösungen anzubieten, bevor er Probleme erkennt, ist die Losung, unter der die Datenmengen analysiert werden.

Dafür freuen sich die Cyberkriminellen

Einer der wenigen, die hier eine kritische Perspektive einnehmen, ist der ehemalige Polizeichef und ehemalige Interpol-Präsident Björn Eriksson. In seiner Streitschrift «Die Karten auf den Tisch» bezeichnet er die Idee der Bargeldlosigkeit als Bereicherungsmanöver der Banken, der zurückgegangenen Zahl der Banküberfälle stellt er die rasant gestiegene Cyberkriminalität gegenüber. Die Öffentlichkeit erfahre wenig über die zunehmenden Hackangriffe gegen Bankenserver, schreibt Eriksson, und vor allem wenig darüber, dass die «virtuellen Banküberfälle» nicht Tresoren, sondern Datenbanken gelten.

Debitkarten für Siebenjährige

Aus Kundensicht ist das Ende des Cash die logische Fortschreibung der eigenen Gewohnheit. Die meisten Skandinavier tragen schon lange kein Bargeld mehr bei sich und waren seit Jahren nicht mehr in einer Bank. Das Sackgeld überweist man den Kindern (in Norwegen dürfen Siebenjährige mit der Debitkarte zahlen). Auch der Aussicht auf lückenlose Speicherung aller persönlichen Ausgaben stehen die meisten Leute vergleichsweise gelassen gegenüber. Dahinter steht die Überzeugung, dass man dem Staat, den Behörden und im Grunde auch den Banken vertrauen kann. Wenn Kritik laut wird, dann höchstens an der unzureichenden IT-Infrastruktur in abgelegenen Landstrichen.

Sogar die Kirchenkollekte wird per Karte bezahlt

Die Erklärung für die entspannte Haltung gegenüber einschneidenden Veränderungen sieht Arvidsson in der hohen Digitalaffinität seiner Mitbürger. Schweden ist nicht nur das erste Land, in dem man mit der Karte in der Kirche die Kollekte zahlen kann, es ist auch das erste Land, in dem flächendeckend jedes Kind am ersten Schultag ein staatlich finanziertes iPad erhält, das erste Land, in dem Kinder auf der Tastatur und nicht von Hand schreiben lernen.

Frauenwahlrecht, Free Wi-Fi, Hipster-Vollbart und jetzt Bargeldlosigkeit – vieles, was man früher für undenkbar hielt und was heute durchaus als normal gilt, nahm im Norden seinen Anfang. Wenn es stimmt, dass Skandinavien ein zuverlässiger Seismograf ist für gesellschaftliche Entwicklungen, dann kann man gespannt gen Norden blicken und abwägen, wofür der Preis höher sein wird: Wenn man etwas als Erster oder als Letzter macht.

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